Früherkennung des Kinetose-Risikos

Während der Ausbildung für Jetpiloten/Jetpilotinnen bei der Luftwaffe tritt bei manchen Anwärtern/Anwärterinnen Kinetose auf. Kinetose beschreibt ein Symptommuster aus Übelkeit, Desorientierung und Sehstörungen, das durch Bewegungssituationen verursacht wird. Wenn ein/-e Pilotenanwärter/-in eine ausgeprägte Kinetose entwickelt, wird der jeweilige Ausbildungsabschnitt abgebrochen. Dies führt zum Verlust eines der sehr limitierten Ausbildungsplätze, erheblichen Verzögerungen und hohen Mehrkosten für die Ausbildung.

KiRis – Simulatorgestützte Identifikation des Kinetose-Risikos in der Ausbildung des fliegerischen Dienstes (FlgDst) mit Methoden der künstlichen Intelligenz

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»KiRis«-Projektteam: Kick-off 2022

Obwohl das Konzept der Kinetose seit mehr als 50 Jahren im Fokus der Forschung liegt, gibt es bisher kein tiefgreifendes Verständnis für die Entstehung und Linderung der Symptome. Bisher wurden Sinneskonflikte (Reason & Brand, 1975) und wenige individuelle Faktoren wie Geschlecht, Alter und bisherige Kinetose-Erfahrungen (siehe z. B. Golding, 2006) in Verbindung mit der Entstehung von Kinetose gebracht. Zur Linderung steht eine Reihe von Medikamenten zur Verfügung, die allerdings mit starken Nebenwirkungen wie Schläfrigkeit und Lethargie einhergehen und somit in sicherheitskritischen Bereichen problematisch sind. Insgesamt betrachtet ist Adaption an die aversiven Stimuli die erfolgreichste Gegenmaßnahme, jedoch kann diese langwierig und unangenehm für die betroffene Person sein (Heutink et al., 2019). Dies hat zur Folge, dass eine Desensibilisierung nicht der breiten Masse an Bewerbern/ Bewerberinnen zur Verfügung gestellt werden kann, sondern einzelnen anfälligen Personen vorbehalten werden muss.

Um Ausbildungsabbrüche infolge des Auftretens von Kinetose zu minimieren und Stellen in der fliegerischen Ausbildung effizient zu nutzen, ist es zielführend, Pilotenanwärter/-innen mit einer Anfälligkeit für Kinetose frühzeitig zu identifizieren und ggf. Desensibilisierungsmaßnahmen einzuleiten. Im Projekt KiRis, das vom Kommando Luftwaffe (KdoLw) in Auftrag gegeben wurde und durch das Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe (ZentrLuRMedLw) fachlich betreut wird, entwickelt das Fraunhofer FKIE in projektleitender Rolle zusammen mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt – Institut für Systemdynamik und Regelungstechnik (DLR-SR) und der Universität der Bundeswehr München – Institut für Flugsysteme (UniBwM-IFS) ein simulatorgestütztes Verfahren, um die Tendenz für Kinetose bei Fluganwärtern/Fluganwärterinnen frühzeitig feststellen zu können.

 

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Testmessungen mit psychophysiologischer Messtechnik für die Ermittlung der Atemfrequenz, elektrodermalen Aktivität, elektrogastrischen und elektrokardiografischen Signale und der Gesichts-/Körperkerntemperatur im DLR Robotic Motion Flugsimulator.
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An Testperson angebrachte Sensorik für die Ermittlung der Hautleitfähigkeit

Auf Grundlage von Literaturrecherchen und Interviews mit Piloten/Pilotinnen der Luftwaffe werden kinetoseauslösende Flugszenarien erstellt und geeignete Methoden für die Ermittlung von Kinetosen erarbeitet. Hierauf aufbauend wird ein geeignetes Flugmodell angepasst und optimiert. Zudem werden Bewegungsalgorithmen entwickelt, sodass die Simulatoranlage (DLR Robotic Motion Simulator) in der Lage ist, bei potenziell kinetoseanfälligen Personen entsprechende Symptome auszulösen. Während der Simulatorflüge werden u. a. psychophysiologische Signale und subjektive Angaben zum Kinetoseempfinden der Fluganwärter/-innen erhoben, um hieraus anschließend mit einem geeigneten KI-Modell möglichst zuverlässige Aussagen über das Auftreten oder Nichtauftreten von Kinetose treffen zu können.

Für die Erfassung von Kinetosesymptomen werden zumeist subjektive Methoden wie Fragebögen genutzt. Einige Studien betrachten zusätzlich physiologische Reaktionen mithilfe physiologischer Messsensorik. Allerdings hat sich hierbei noch kein einzelner Parameter herausgestellt, der zuverlässig Kinetosen vorhersagen oder identifizieren könnte. Es gibt Ansätze, eine Batterie von physiologischen Parametern mit Selbsteinschätzung über Fragebögen zu kombinieren, um so im Idealfall das Auftreten von Kinetosen vorhersehen zu können (Harm & Schlegel, 2002). Entsprechend fallen hier größere Datenmengen an, für die eine Auswertung mit Methoden der KI, speziell Machine Learning, ein geeignetes Mittel darstellen. Im späteren Verlauf des Projekts wird das subjektive Kinetoseempfinden der Fluganwärter/-innen während der Realflüge der fliegerischen Ausbildung in Goodyear (USA) erhoben, damit eine abschließende Validierung des KI-Modells erfolgen kann.

 

Im bisherigen Projektverlauf konnten auf Grundlage von Literaturrecherchen die für das Projektvorhaben am besten geeigneten objektiven psychophysiologischen und subjektiven Messverfahren erarbeitet werden. Des Weiteren konnten in Interviews mit der Luftwaffe und Ausbildungsstätten kinetoseinduzierende Flugszenarien ermittelt werden, die im späteren Verlauf des Projekts von Fluganwärter/-innen im Flugsimulator DLR Robotic Motion absolviert werden. Hierbei ist vorgesehen, dass die Fluganwärter/-innen sowohl passiv als auch aktiv im Simulator verschiedene Flugmanöver absolvieren.

Vor, während und nach dem Simulatorflug werden Symptome von Kinetose erfasst. Dies geschieht sowohl auf Grundlage von Fragebögen (Simulator Sickness Questionnaire (Kennedy et al., 1993) und Fast Motion Sickness Scale (Keshavarz & Hecht, 2011)) als auch durch die Verwendung von Messverfahren für die Ermittlung psychophysiologischer Körpersignale (augenbezogene Parameter, Atemfrequenz, elektrodermale Aktivität, elektrogastrische und elektrokardiografische Signale und Gesichts-/Körperkerntemperatur). Nach Finalisierung der Experimentalumgebung wird die Testung der Fluganwärter/-innen im Simulator voraussichtlich in Q3/4 2023 erfolgen. Im Anschluss daran werden die erhobenen Messdaten aufbereitet und für die Optimierung eines KI-Modells zur Kinetoseermittlung verwendet, das schließlich validiert wird. 

 

Projektzeitraum

Oktober 2021 bis Oktober 2024

 

Auftraggeber

Kommando Luftwaffe (KdoLw) 

 

Projektpartner

  • Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt – Institut für Systemdynamik und Regelungstechnik (DLR-SR) 
  • Universität der Bundeswehr München – Institut für Flugsysteme (UniBwM-IFS)

 

Golding, J. F. (2006). Predicting individual differences in motion sickness susceptibility by questionnaire. Personality and Individual differences, 41(2), 237-248.
 

Harm, D. L., & Schlegel, T. T. (2002). Predicting motion sickness during parabolic flight. Autonomic Neuroscience, 97(2), 116-121. 
 

Heutink, J., Broekman, M., Brookhuis, K. A., Melis-Dankers, B. J. M., & Cordes, C. (2019). The effects of habituation and adding a rest-frame on experienced simulator sickness in an advanced mobility scooter driving simulator. Ergonomics, 62(1), 65–75.
 

Kennedy, R. S., Lane, N. E., Berbaum, K. S. & Lilienthal, M. G. (1993). Simulator sickness questionnaire: An enhanced method for quantifying simulator sickness. The International Journal of Aviation Psychology, 3(3), 203–220. 

Keshavarz, B. & Hecht, H. (2011). Validating an efficient method to quantify motion sickness. Human Factors, 53(4), 415–426.
 

Reason, J. T., & Brand, J. J. (1975). Motion sickness. London: Academic Press.