Lagebild in der Akutphase der Katastrophe

Die Hochwasserkatastrophe in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 hat die Menschen und das Landschaftsbild in vielen Regionen Deutschlands schwer gezeichnet. Insbesondere das Ahrtal mit den Orten Mayschoß, Dernau und Bad Neuenahr-Ahrweiler war betroffen. Bis heute haben die Menschen dort mit den Folgen der Flut zu kämpfen.

Die ersten Tage und Wochen nach dem verheerenden Hochwasser haben vor allem eines gezeigt: Es fehlte ein System, das den Gemeinden und den Hilfsorganisationen ein flexibles Lagebild zur Verfügung stellt, um ad hoc und koordiniert vorgehen zu können. Das Fraunhofer FKIE hat angesichts der unmittelbaren Erfahrungen aus dieser Katastrophe das Projekt »lokik«, kurz für »Lokales initiales Krisenmanagement«, gestartet. Ziel ist es, in  enger Abstimmung mit den regionalen Vertretern sowie den zuständigen Sicherheits- und Rettungsorganisationen ein Tool zu schaffen, das in der Akutphase künftiger Katastrophenszenarien und in den Tagen danach ein solches Lagebild bereitstellt.

Lokales initiales Krisenmanagement (lokik)

© Fraunhofer FKIE
Meterhoch trat die Ahr in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 über das Ufer und verwüstete weite Teile des Ahrtals. Die Aufnahme zeigt die von der Flutwelle schwer beschädigte Nepomukbrücke bei Rech.
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Wo wird welche Art von Hilfe am Dringendsten benötigt? Die Koordination von Rettungskräften und Helfern ist in der Akutphase nach einer Katastrophe besonders wichtig.
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Das Projekt »lokik« informiert über die aktuelle Lage und Hilfsangebote für die Menschen vor Ort.

In den ersten Tagen eines großflächigen Schadensereignisses ist die schnelle und zielgerichtete Koordination lokaler Kräfte – von professionellen Rettungskräften bis hin zu Spontanhelfern – entscheidend für die Rettung von Menschenleben, die Reduzierung des Schadens und die ersten Schritte in Richtung Krisenbewältigung.

Zu besonderen Herausforderungen führen der Wegfall von Kommunikationsmöglichkeiten (u. a. Mobilfunk, Internet, Telefon, BOS-Funk), abgeschnittene Zufahrts- und Fluchtwege sowie fehlende Informationen über die Schadenslage und die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Zudem bindet eine großflächige Lage die Behörden und Kräfte eines betroffenen Landes dermaßen, dass eine flächendeckende Unterstützung nicht unmittelbar erfolgen kann – Gemeinden bleiben zunächst auf sich alleine gestellt. Die Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen hat hier auf schmerzhafte Weise Defizite bei dem unmittelbaren Aufbau eines Lagebildes und der Koordination von Rettungskräften und Spontanhelfern aufgezeigt.

Das Projekt »lokik« setzt genau an diesen identifizierten Punkten an und baut auf den Erfahrungen und Erkenntnissen des Hochwassers im Sommer 2021 auf.

Es bietet:

  • den einfachen und schnellen Aufbau eines lokalen Lagebildes,
  • ein unabhängiges, lokales Kommunikationsnetz für räumlich begrenzten Datenaustausch,
  • aufgabenspezifische Ansichten und Funktionen für
    • den lokalen Krisenstab, insbesondere zur Erfassung der Schadenslage und zur Koordination und Priorisierung der Aufgaben,
    • professionelle Kräfte, als Input zum Aufbau eines Lagebildes nach bewährten Vorgaben für Feuerwehr- und Katastrophenschutz und somit auch für die Vorbereitung zur nahtlosen Einbindung externer Kräfte,
    • die lokale Bevölkerung, die Informationen zur Situation eingeben kann und einen einfachen Überblick über die aktuelle Lage und Hilfsangebote erhält. Zusätzlich kann die Bevölkerung eigene Unterstützungsangebote – wie z.B. Medikemantenvorräte, Werk- oder Fahrzeuge – über die Lagekarte melden.

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Mehrere Boxen mit den Kommunikationskomponenten werden in sicheren Positionen in der Gemeinde verteilt und im Katastrophenfall mit einem Stromgenerator in Betrieb genommen.
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Die Hardware dient dem Aufbau eines Kommunikationsnetzes inklusive WLAN.

In dem Projekt »lokik« wird eine Lösung als Kombination aus Hardware und Software aufgebaut. Die Basis der Software bildet eine digitale Lagekarte, die über einen Browser zum Beispiel per Smartphone, Tablet oder Computer aufgerufen werden kann. Diese Karte ist geographisch auf eine Gemeinde, eine Stadt oder einen Ort abgegrenzt und stellt die relevante Infrastruktur wie Wohnhäuser, öffentliche Gebäude und das Straßennetz dar. Die Idee ist, dass im Falle einer Krise jeder Bürger diese Karte aufrufen und Informationen zu der aktuellen Situation, aber auch zu eigenen Unterstützungsmöglichkeiten eintragen kann.

Mithilfe der gesammelten Hinweise können Betroffene alle Informationen zu Hilfsangeboten - etwa Trinkwasservorräte und Medikamente - abrufen. Je mehr Informationen eingehen, desto schneller kann ein umfassendes Bild der aktuellen Schadenslage erstellt werden.Die Navigation durch die Karte soll intuitiv und einfach gehalten sein, sodass sie auch ungeschulte Personen unkompliziert nutzen und bedienen können. Um dies zu gewährleisten, hat die Abteilung  Mensch-Maschine-Systeme (MMS) verschiedene Anforderungsanalysen durchgeführt: So fanden in den Partnergemeinden mehrere Workshops und Einzelinterviews statt, um die Anforderungen an die Software zu analysieren und zu testen.

Alle eingetragenen Informationen stehen dem lokalen Krisenstab unmittelbar für eine Bewertung der Lage und Priorisierung des Ressourceneinsatzes zur Verfügung. Zusätzlich eingeführt wurde zudem die Funktion eines »Sichters«, der zum Beispiel das gemeldete Schadensausmaß überprüft und dem örtlichen Krisenstab bestätigt. Ziel ist es außerdem, das Abarbeiten von Aufgaben zu unterstützen. Die Software, die ein digitales Informationsangebots widerspiegelt, soll eine deutliche Entlastung bei der Verteilung der Informationen sowohl für die Betroffenen, die Spontanhelfer als auch den Krisenstab bieten.

Fällt das Kommunikationsnetz aus, kommt die Hardware-Komponente zum Einsatz. Die relativ unkomplizierte Hardware wird zugekauft und dient dem autarken Betrieb, bei dem der Aufbau eines Kommunikationsnetzes auf Basis eines eigenen WLAN (Wireless Lokal Area Networks) realisiert wird. Das Netz ist robust und wenig komplex in seiner Anwendung. Die Lösung besteht zunächst aus einer Equipment-Box, die an einer geographisch und strategisch sinnvollen Position im Ort deponiert wird. Binnen Minuten kann ein Knoten aufgebaut werden, über den sich die Endgeräte einwählen und die Software-Lösung aufrufen können. Die Anzahl der Kommunikationsmodule ist beliebig erweiterbar, sodass es möglich ist, die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Ortes zu berücksichtigen. In der zeitkritischen ersten Phase einer großflächigen Schadenslage können so alle relevanten Informationen zusammengeführt werden.

»Entscheidungsträger werden in die Lage versetzt,
Entscheidungen zu treffen. Je besser die Informationslage ist,
desto besser können diese Entscheidungen getroffen werden.
Je höher die Prozentzahl an gesicherten Informationen ist,
desto besser sind die Entscheidungen.«
 

Gerd Baltes,
Leiter des Krisen- und Aufbaustabs in Mayschoß

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Kick-off im Frühjahr 2022: Wissenschaftler des FKIE stellen das Projekt »lokik« in Mayschoß vor.
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Erfahrungen aus der Flutkatastrophe im Ahrtal und der Menschen vor Ort fließen in die Projektentwicklung ein.

Das Ergebnis des Projekts »lokik« ist weder eine »Rundum-Sorglos-Lösung« noch ein umfassendes Führungssystem speziell für Hochwasserkatastrophen. Vielmehr ist es eine flexibel für unterschiedliche Katastrophenszenarien – vom Hochwasser über Schneesturm, Brand, Erdbeben oder Vulkanausbruch– einsetzbare Lösung, die für lokale Kräfte handhabbar ist.

Es wird im Ernstfall weiterhin improvisiert, weil sich nie alle Szenarien im Detail vordenken lassen, aber mit deutlich besseren Voraussetzungen. Die Technik dafür ist ausgefeilt, bleibt aber im Hintergrund – etwas, das sich einfach anfühlt und funktioniert.

Kolleginnen und Kollegen des FKIE, die auf unterschiedliche Weise Erfahrungen während der Hochwasserkatastrophe gesammelt haben, sowie mehrere betroffene Gemeinden der Region haben sich in die Ausarbeitung der Projektidee eingebracht und sind in die  Umsetzung eingebunden.